Bach-Kantaten in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-
Kirche in Berlin

Samstag, 18 Uhr in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche – alle vierzehn Tage steht dieser Termin für ein Musikereignis, das diesem Ort der Mahnung, Versöhnung und Ruhe eine besondere musikalisch-liturgische Prägung inmitten der multikulturellen und multireligiösen Stadt Berlin gibt und an nur wenigen Orten der Welt zu erleben ist: die liturgiegerechte, zyklische Aufführung des kompletten geistlichen Kantatenwerks Johann Sebastian Bachs.

 

 

Annäherung an ein großes Vermächtnis

1723 wurde Bach zum Thomaskantor und zum Musikdirektor der vier Leipziger Hauptkirchen ernannt. Im Rahmen dieser Tätigkeit zählte es über mehrere Jahre zu seinen Aufgaben, sonntags ein etwa 20minütiges kirchenmusikalisches Werk zu vorgegebenen Bibeltexten aufzuführen. Insgesamt komponierte Bach über 300 Kirchenkantaten, von denen rund 200 erhalten sind.

Um den Aufbau und die Pflege dieser Tradition in Berlin haben sich zunächst verschiedene Berliner Chöre und ihre Leiter verdient gemacht. Am Abend des 6. April 1947, des Osterfestes, wurde mit der Aufführung der Kantate Christ lag in Todesbanden der erste Gottesdienst des Kantatenzyklus gefeiert. Die Initiative war vom damaligen Direktor der Inneren Mission, Kirchenrat Dr. Theodor Wenzel, ausgegangen. Unterstützt vom Bach-Forscher Friedrich Smend, hatte er den „Arbeitskreis für Kantategottesdienste“ gegründet, der die Aufführung der Bach-Kantaten bis 1961 bestritt.

 

Die frühen Jahre

Vier Dirigenten und ihre Chöre prägten das erste Jahrzehnt des Zyklus: Gottfried Grote (Spandauer Kantorei), Wolfgang Reimann (Staats- und Domchor), Paul Hoffmann (Kantorei der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche) und Herbert Mützel (Schöneberger Kantorei). Zur Seite standen ihnen ein sich über die Jahre immer fester fügendes Instrumentalensemble und ein größerer Kreis von Gesangssolistinnen und -solisten.

Veranstaltungsort der Kantategottesdienste war zunächst die Matthäus-Kirche in Steglitz, später feierte man sie in der Pauluskirche in Zehlendorf. Vom ursprünglich wöchentlichen Rhythmus sonntags ging man bald zu 14-täglichen Veranstaltungen am Samstag um 18 Uhr über.

 

Zwei Ensembles eine Mission

Ab 1957 dirigierte Hanns-Martin Schneidt, der 1956 die Leitung der Berliner Kirchenmusikschule und der Spandauer Kantorei übernommen hatte, fast alle Aufführungen. Mit der Gründung des Bach-Collegiums im Jahr 1957 und des Bach-Chors im Jahr 1961 schuf er zwei Ensembles, die sich der einzigartigen Tradition der zyklischen Aufführung des Bachschen Kantatenwerks bis heute verpflichtet fühlen.

Der Plan, die Kantategottesdienste in der neuen Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche zu institutionalisieren, war schon während des Baus der Kirche gefasst worden. Am 17. Dezember 1961, dem Tag der Einweihung der neuen Kirche, trat der Bach-Chor mit einer Aufführung der Kantaten I-III des Weihnachtsoratoriums zum ersten Mal an die Öffentlichkeit.

Nach Schneidts Weggang aus Berlin übernahm Helmuth Rilling 1963/64 die Leitung von Bach-Chor und Bach-Collegium. Seine Nachfolge trat im Februar 1964 Karl Hochreither an, der die beiden Ensembles sowie die Aufführung der Bach-Kantaten in 38 Jahren engagierter musikalischer Arbeit zu einer Institution des Berliner Kulturlebens machte. Seit dem Jahr 2002 liegt die musikalische Leitung von Bach-Chor und Bach-Collegium bei Achim Zimmermann.

 

Lebendige Tradition

Seit dem ersten Kantategottesdienst 1947 fanden weit über tausend Kantategottesdienste statt. Mit durchschnittlich 300 Besuchern ziehen diese Gottesdienste in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche nicht nur ein großes Berliner Stammpublikum an, sondern auch Gäste und Musikliebhaber aus aller Welt. Sie zeigen, dass es ein andauerndes Bedürfnis gibt, die Musik Johann Sebastian Bachs im ursprünglich vorgesehenen Rahmen zu hören.